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Bäume, Bücher, Jahresringe: Ein Wald für die Bibliothek der Zukunft

Janina Reinsbach
Future Library by Kristin von Hirsch, 2015
Future Library by Kristin von Hirsch, 2015

Seit zehn Jahren wächst in und um Oslo ein außergewöhnliches Kulturprojekt


In der Umgebung von Oslo wächst auf einer Lichtung ein besonderer Wald. Die Bäume darin, tausend an der Zahl, sind noch nicht sonderlich groß, da sie erst 2014 mit einem besonderen Zweck gepflanzt worden sind: Sie werden mit hundert Jahren zu Büchern gemacht, Büchern der sogenannten „Zukunftsbibliothek“ - „framtidsbiblioteket“. Gleichzeitig mit dem Wachsen der Bäume werden auch die Bücher für diese besondere Bibliothek geschrieben, hundert Jahre lang, jedes Jahr eines, von verschiedenen Autorinnen und Autoren weltweit. Die Manuskripte werden nach ihrer Fertigstellung bis zum Jahr 2114 unter Verschluss gehalten und keine*r der Autor*innen verliert über ihren Inhalt ein Wort. Der Rest der Welt kennt nur ihren Titel und mit großer Wahrscheinlichkeit werden die anderen Autor*innen, Projektbeteiligten, Lesenden von heute ihren Inhalt nie zu Gesicht bekommen – es sei denn, sie werden außergewöhnlich alt.

Future Library by Kristin von Hirsch, 2015
Future Library by Kristin von Hirsch, 2015

Das Projekt der Zukunftsbibliothek wurde ins Leben gerufen von der schottischen Künstlerin Katie Paterson und hat in den Händen der Projektorganisatorin Anne Beate Hovind von Bjørvika Utvikling in der Nordmarka bei Oslo ihr zu Hause gefunden. Hier trifft sich jährlich eine stetig wachsende, weltweite Community rund um die Zukunftsbibliothek zur sogenannten „Handover-ceremony“, also zur feierlichen Übergabe des jeweiligen Manuskripts.

photo-kristin-von-hirsch
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Man sitzt im Wald bei Regen, Schnee, Sonne und Wind, es gibt Musik, Kaffee und Schokolade und Autor*innen wie Margaret Atwood, Han Kang, Sjón oder Karl Ove Knausgård übergeben ihr fertiges Manuskript an die Zukunftsbibliothek und geben den Titel bekannt. Wenn man sich das fröhliche und über die Jahre mit den Bäumen wachsende Grüppchen in seiner familiären Atmosphäre im norwegischen Wald betrachtet, unterschätzt man vielleicht auf den ersten Blick, wie umfassend das Projekt der Zukunftsbibliothek doch ist. Was jedoch geradezu leuchtend hervorsticht, ist die enorme Wärme, Herzlichkeit und tiefe, ernsthafte Involviertheit, die diese Begegnung auszeichnet.

Handover ceremony mit Karl Ove Knausgård / Future-Library-2022-Jola-Josie
Handover ceremony mit Karl Ove Knausgård / Future-Library-2022-Jola-Josie

Was ist das überhaupt für ein verrücktes Projekt? Bäume, die wachsen, um Papier zu werden für Bücher, die keiner kennt? In einer Zukunft, in der vielleicht niemand mehr nondigital liest. Geschweige denn druckt. Oder die jeweilige Sprache des Manuskripts versteht – was zum Beispiel beim isländischen Autor Sjón nicht allzu abwegig ist. Vielleicht sind auch die Bäume bereits den klimatischen Veränderungen zum Opfer gefallen. Oder einer politischen Laune, die den Wald lieber wirtschaftlich nutzen möchte als kulturell. Die im Jahr 2023 teilnehmende deutsche Autorin Judith Schalansky beschreibt es so: ”Es gibt Zeiten, die mehr wie eine Tabula rasa sind […] Also vielleicht wird es eine Zukunft sein, die sehr viel ernstere Probleme hat, als in die Zeitkapsel lang verstorbener Autor*innen zu gucken. Aber der Punkt mit dem Projekt ist noch ein anderer, nämlich, dass wir Bedeutung kreieren. Und wie sehr wir uns nach Bedeutung sehnen.”


FUTURE-library-2022-Jola.jpg
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Was ist das für ein Projekt, das seine Nachhaltigkeit über die Zeitspanne eines Menschenlebens erhebt? Welche Fragen stellt es an die Zukunft und an uns heute?

Natürlich weiß niemand genau, wie die Welt in hundert Jahren aussieht, bis darauf, dass die meisten heute lebenden Menschen bis dahin tot sein werden.


David Mitchell und Katie Paterson / Future_Library_Kristin von Hirsch, 2016
David Mitchell und Katie Paterson / Future_Library_Kristin von Hirsch, 2016

„Wir werden mit unserer eigenen Sterblichkeit konfrontiert“, sagt Katie Paterson. Autor Karl Ove Knausgård formuliert es so, dass die versiegelten Boxen mit den Manuskripten ”außerhalb der Kontinuität des Lebens” aufbewahrt würden. Jenseits der Zeit, könnte man sagen. Die heutige Literaturnobelpreisträgerin Han Kang beschreibt dies als furchteinflößend – doch ihr Werk trägt den Titel ”Dear Son, My Beloved”. Auch David Mitchell wünscht sich, dass die Leute ihre Kinder mit zur Übergabe-Zeremonie bringen. Der Gedanke gefällt ihm, dass in einem Zweijährigen, der theoretisch mit über 90 Jahren im Altersheim sein Buch noch lesen könnte, eine Brücke vom Heute in die ferne Zukunft menschliche Gestalt annehmen würde.

Han Kang auf dem Weg zur Handover Ceremony / Future-library-2019-Han-Kang-foto-Kristin-von-Hirsch
Han Kang auf dem Weg zur Handover Ceremony / Future-library-2019-Han-Kang-foto-Kristin-von-Hirsch

Einmal abgesehen von den existenziellen Inhalten der Zukunftsbibliothek: Was heißt es denn nicht nur emotional sondern auch organisatorisch, ein Projekt zu beginnen, dessen Ende man nicht mehr erleben wird? Zwingt einen dies nicht zu einem viel nachhaltigeren Denken? Zu einem Arbeiten über den eigenen Horizont hinaus?

Future-library-2019-Han-Kang-foto-Kristin-von-Hirsch
Future-library-2019-Han-Kang-foto-Kristin-von-Hirsch

Die Zukunftsbibliothek trägt in ihren Strukturen eine Nachhaltigkeit in sich, von denen die meisten Kunst- und Kulturprojekte nur träumen können. Da ist die Gründung einer Stiftung, um den Fortgang des Projektes auch zu garantieren, wenn die Initiator*innen es nicht mehr können. Da ist dieser eigens gestaltete „Stille Raum“ in der neuen Osloer Bibliothek Deichman Bjørvika, in dem die Manuskripte verschlossen bis in das Jahr 2114 verwahrt werden und besucht werden können.

Deichman_Future_Library-Photo_Einar_Aslaksen
Deichman_Future_Library-Photo_Einar_Aslaksen

Den Raum gab es die ersten Jahre des Projektes noch gar nicht, doch er wurde eigens hierfür geschaffen. Und da ist seit dem Jahr 2022 auch ein sehr besonderer Vertrag mit der Stadt Oslo, der dem Projekt hundert Jahre lange Unterstützung zusichert. Vermutlich ist dies eine der langfristigsten politischen Zusagen, die jemals getroffen worden sind. Oder um es mit den Worten des Kulturborgarråd Omar Samy Gamal bei der Verkündung des Vertrags im Juni 2022 zu sagen: „In the heart of the forest lies a city. In the heart of the city lies a library. In the heart of the library lies the future.“


Der Stille Raum in der Bibliothek Deichman Bjørvika / Photo_Einar_Aslaksen
Der Stille Raum in der Bibliothek Deichman Bjørvika / Photo_Einar_Aslaksen

Die Zukunft ist immer ungewiss. Wir leben mit diesem Ungewissen und machen trotzdem Pläne, kriegen Kinder, beeinflussen die Welt. Selten trifft uns wirklich das Bewusstsein um genau diese existenziellen Fragen: Was wird nach meinem Tod sein? Wie werden meine Kinder leben? Wie wird der Planet bis dahin aussehen und sich die menschliche Gemeinschaft weltweit verändert haben? Was kann ich für die Zukunft tun? Welche Verbindungen sind so elementar, dass sie sich bis dahin erhalten?

Future_Library_Kristin-von-Hirsch_2022
Future_Library_Kristin-von-Hirsch_2022

Selten ist Veränderung so konkret wie einen Baum wachsen zu sehen. Selten ist die Verlassenheit, das Zurückgeworfensein des einzelnen Menschen auf sich so deutlich wie bei einem Autor, der für einen ungeborenen Leser schreibt. Genau hier liegt die umfassende, poetische Stärke der Zukunftsbibliothek. Dass genau diese Verbindungen und Gedanken offenbar werden, die universell sind, existenziell und somit auch weltweit relevant.

Die Verbindung von Wald und Buch ist außerdem keine willkürliche. Sie spiegelt den Kreislauf des Lebens vom Wachsen, Sterben und in anderer Form wiedergeboren - oder auch einfach: verwendet - werden. Im Wald rotten Bäume nicht ”umsonst” vor sich hin. Sie tragen tot genau wie lebend zum Funktionieren des Ökosystems bei. Recycling ist genau genommen ja keine menschliche Erfindung.

In diesem Sinne verbindet die Zukunftsbibliothek so viel ewiges materielles und immaterielles Wesen unserer Zeit wie Geist und Baum, Mensch und Buch und zeigt damit auch unsere Verbindung zur Erde, zur Natur, zur Kultur. All dies im Spiegel der Zeit, die gleichzeitig aber auch das Wachsen begünstigt. Das Wachsen der Bäume sowie das Wachsen der Bücher: Die gedankliche Vielfalt der Bibliothek wächst mit den Bäumen. Sjón sagt: „For me forests are always connected to fairy tales.“

Karl Ove Knausgård, Katie Paterson und Sjón / Future_Library_Kristin-von-Hirsch_2022
Karl Ove Knausgård, Katie Paterson und Sjón / Future_Library_Kristin-von-Hirsch_2022

Hinzu kommt das Geheimnis. Judith Schalansky beschreibt das Tabu als das Herz vieler Traditionen und glaubt, dass wir etwas brauchen, das geheim bleibt, etwas Unerreichbares. In diesem Sinne vielleicht nicht ganz zufällig heißt das Werk der 2017 teilnehmenden Autorin Elif Shafak „The Last Taboo“. Welch Geste von Seiten der Autor*innen, sich zu einem solchen Geheimnis zu verpflichten! Aber auch das Geheimnis buchstäblich zu ver-wahren auf Seiten der Bibliothek Deichman Bjørvika. Eine Repräsentantin der Stadt Oslo beschreibt es bei der Übergabe-Zeremonie im Jahr 2016 als das „ultimate Zeichen des Vertrauens, jemandem ein Geheimnis anzuvertrauen.“ Womit wir bei einem anderen großen Wort sind; denn ohne Vertrauen würde das ganze Projekt der Zukunftsbibliothek nicht funktionieren.


Margaret Atwood, 2015 / by Kristin von Hirsch, 2015.jpg
Margaret Atwood, 2015 / by Kristin von Hirsch, 2015.jpg

Dabei geht es nicht nur um das Vertrauen ineinander, das die unmittelbar am Projekt Beteiligten aufbringen. Es geht auch so sehr um ein Zutrauen in die Welt, in ihr Weiterbestehen, in die Zukunft. Dies wird in vielfältiger Weise von den teilnehmenden Autor*innen erfasst und gespiegelt. Manche, wie der 2020 teilnehmende Autor Ocean Voung, sprechen von Optimismus. Sjón benennt es als Hoffnung: „Jedes Kunstwerk ist eine Geste der Hoffnung; weil es eine Geste gegen Destruktion, Dunkel und gegen unser tiefes Wissen ist, dass wir eines Tages nicht mehr hier sein werden.“


Future_Library_Forest_Rio Gandara Helsingin Sanomat.jpg
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